Rotalgen zerstören marine Ökosysteme – Coverstory der Zeitschrift "Science"
Studie zeigt, wie invasive Rotalgen der Gattung Dasysiphonia japonica die Erholung der Seetangwälder bedrohen.
Die Erwärmung der Ozeane in gemäßigten Klimazonen führt zum Absterben der Seetangwälder. Gleichzeitig breiten sich Rotalgen zunehmend aus, beispielsweise auch im Norden Spaniens. Diese Transformation von dichten, hochaufwachsenden Seetangwäldern hin zu großflächigen Matten aus Rotalgen, wie sie auch im Golf von Main an der Ostküste der USA zu beobachten ist, hat gravierende Auswirkungen: Es kommt zu einem Verlust an biologischer Vielfalt, einer Veränderung des Energie- und Nährstoffflusses in den Riffsystemen sowie zu grundlegenden Veränderungen in der chemischen Ökologie der Küstenökosysteme.
Eine neue Studie, veröffentlicht in der renommierten Fachzeitschrift Science, zeigt erstmals auf, wie Rotalgen Chemikalien freisetzen, die junge Seetang-Pflanzen schädigen können. Dies haben ein Team um Shane Farrell und Doug Rasher am Bigelow Marine Laboratory in Maine sowie die Gruppe von Daniel Petras an der Universität Tübingen und der University of California, Riverside herausgefunden. Petras war 2021–2024 Leiter einer Nachwuchsgruppe im Exzellenzcluster CMFI an der Universität Tübingen, wo teile der Arbeit durchgeführt wurden. Laut den Forschenden entsteht eine besorgniserregende Rückkopplungsschleife: Mehr Rasen bedeutet eine erhöhte Produktion schädlicher Chemikalien, die die natürliche Erholung der Seetangwälder erschweren und deren Zusammenbruch weiter beschleunigen.
Diese chemisch vermittelte Wechselwirkung ist auch bekannt als Allelopathie. Die Forschenden bezeichnen es als chemische Kriegsführung. Die Studienergebnisse zeigen eindrucksvoll auf, wie der Klimawandel die Ökosysteme der Ozeane verändert und die Regeneration der Seetangwälder an der sich rapide erwärmenden Küste von Maine zunehmend erschwert.
An der Studie sind Forschende der University of Maine, der Universität Tübingen, des Perry Institute for Marine Science sowie der Harvard University beteiligt. In interdisziplinären Teams kombinieren sie umfangreiche Feldstudien, chemische Analysen und Laborexperimente, um die dynamischen Veränderungen in diesen wertvollen Ökosystemen besser zu verstehen.
„Deshalb ist diese Studie so aussagekräftig“, sagte Doug Rasher, leitender Wissenschaftler am Bigelow-Labor und Hauptautor der Studie. „Sie entwickelt sich von der Beschreibung eines Musters in der Natur – der ausbleibenden Erholung von Seetangwäldern – entlang an der Feststellung, dass die chemische Landschaft von Seetangwäldern und Rasenriffen grundlegend verschieden ist, bis hin zum Nachweis, dass Rotalgen und die von ihnen produzierten Chemikalien die Neubildung von Seetang verhindern.“
Die Auswirkungen des Zusammenbruchs von Seetangwäldern und deren Verdrängung durch Rotalgen sind in gemäßigten Ökosystemen auf der ganzen Welt gut dokumentiert.
„Dieser Übergang von Seetang zu von Rotalgen dominierten Riffen ist vergleichbar mit dem Übergang von einem Laubwald zu einem Grasland.“, sagt der Hauptautor der Studie, Shane Farrell, der einen mehrmonatigen Forschungsaufenthalt in der Arbeitsgruppe von Daniel Petras in Tübingen verbrachte. „Mit dem Verlust von Seetangwäldern gehen die biologische Vielfalt, die Produktivität und die Ökosystemleistungen, die sie für die Menschen erbringen, zurück."
Frühere Arbeiten zeigten, dass Rasenalgen, sobald sie sich etabliert haben, die Erholung des Seetangs behindern können, indem sie Platz auf dem Riff beanspruchen oder kleine Weidegänger wie Schnecken oder Muschelkrebse beherbergen, die den jungen Seetang fressen.
Vorangegangene Studien in tropischen Ökosystemen wie Regenwäldern und Korallenriffen haben gezeigt, dass Veränderungen in der chemischen Umgebung eine Rolle bei der Regeneration von Ökosystemen spielen. Ökosysteme können in einem degradierten Zustand verharren und eine Erholung der ursprünglichen Arten wird verhindert. In keiner Studie wurde jedoch untersucht, ob diese Art von chemischen Veränderungen auch in den Seetangwäldern der gemäßigten Breiten eine Rolle spielen könnte.
Um diese Frage zu beantworten, untersuchten die Forschenden drei Jahre lang Seetangwälder im gesamten Golf von Maine. Sie dokumentierten ein Muster von neuem Seetang, der an den südlichen Küstenabschnitten von Maine, wo die Wälder zusammengebrochen sind, ums Überleben kämpft. Während dieser Erhebungen sammelte das Team Wasser- und Seetangproben für chemische Analysen.
Anstatt sich auf bekannte Substanzen zu konzentrieren, wandte das Team zusammen mit Petras eine nicht zielgerichtete Metabolomanalyse an, um das gesamte Spektrum der chemischen Veränderungen in den Proben zu verstehen. Bei diesem Ansatz werden alle kleinen Moleküle innerhalb eines Systems analysiert. Dies ermöglichte es den Forschenden, die einzigartigen chemischen Merkmale des Wassers, der Algen und des Riffs zu identifizieren. Dabei wurden sowohl von Seetang- als auch von Rotalgen dominierte Standorte umfassend analysiert.
Um die Vielzahl der im Wasser vorhandenen Chemikalien zu charakterisieren, trennt man mit dieser Methode die Moleküle und zerlegt sie in Fragmente, die dann mit Referenzbibliotheken abgeglichen werden. So erhält man einen chemischen Fingerabdruck aller vorhandenen Stoffe.
98 % der identifizierten chemischen Merkmale waren bis dahin unbekannt. Um diese Lücken zu schließen, wandte das Team neuartige, computergestützte Werkzeuge an. Diese Untersuchungsmethode kann anhand der Fragmentierungsmuster die bisher unbekannten, größeren Verbindungsidentitäten, Molekularformeln und sogar chemischen Strukturen vorhersagen. Diese Vorhersagen ermöglichten es den Forschenden, unbekannte Verbindungen in breite chemische Familien einzuordnen. Die Ergebnisse verdeutlichten, wie sehr sich die chemische Umgebung eines Seetangwaldes von der eines von Rotalgen dominierten Riffs unterscheidet.
„Es ist großartig zu sehen, wie unsere nicht zielgerichteten metabolomischen- Werkzeuge ein neues Licht auf die faszinierende chemische Komplexität werfen können, die durch sich verändernde Umgebungen wie invasive Algen verursacht wird“, sagt Petras. „Dies wird besonders aussagekräftig, wenn wir unsere chemischen Daten mit funktionalen Informationen, wie dem Überleben von Seetang, kombinieren.“
In einer Reihe von Laborexperimenten testeten die Forschenden anschließend die Auswirkungen aller im Wasser befindlichen Chemikalien in der Umgebung der von Rotalgen dominierten Riffe und der spezifischen Chemikalien, die von den fünf häufigsten Arten von Rotalgen freigesetzt werden, auf die Gametophyten, ein frühes Lebensstadium des Seetangs. Die Experimente zeigten, dass die Überlebenschancen der Organismen drastisch sanken – in einigen Fällen um bis zu 500 % –, wenn sie den von den Algen freigesetzten Chemikalien ausgesetzt waren. Dies bestätigt, dass die neue chemische Umgebung direkt für das Seetangsterben verantwortlich ist.
„Unsere Studie ist die erste, die zeigt, dass chemische Kriegsführung das Erholungspotenzial von Kaltwasser-Tangwäldern unterstützen kann. Und überraschenderweise sind einige der gleichen Arten von Molekülen, die wir bei Riffen in Rotalgen-Gebieten identifiziert haben, auch an der Erholungsdynamik von tropischen Korallenriffen beteiligt“, so Rasher. „Das zeigt, dass wir noch viel über die chemische Kriegsführung in Riffen der gemäßigten Zonen lernen können, über die beteiligten Organismen und Moleküle und darüber, wie dieser Prozess weltweit variiert.“
Frühere Arbeiten von Rashers Forschungsgruppe bestätigten, dass die Erwärmung der Ozeane der Hauptgrund für den Zusammenbruch der Seetangwälder im Golf von Maine ist. Die neuen Erkenntnisse zeigen, dass invasive Algenarten ein Ökosystem in einem degradierten Zustand halten können, und die Erholung des Seetangwaldes verhindern.
„Wenn sich die Algen erst einmal etabliert haben, reicht es nicht aus, die globalen Kohlenstoffemissionen einzudämmen und die Erwärmung der Ozeane umzukehren, um die Seetangwälder in Maine wiederherzustellen“, so Farrell. „Aufgrund dieser Rückkopplungsmechanismen müssen wir vor Ort eingreifen, um die Rotalgen zu entfernen, bevor sich der Seetang tatsächlich erholen kann.“
(Quelle: Pressemitteilung Bigelow-Labor/ Leah Campbell)

Der Artikel wurde auf dem Cover des renommierten Fachjournals Science gefeatured.
Originalpublikation:
Farrell SP, Petras D, Stincone P, Yiu DS, Burns JA, Pakkir Shah AK, Hartmann AC, Brady DC, Rasher DB. Turf algae redefine the chemical landscape of temperate reefs, limiting kelp forest recovery. Science 388(6749):876-880. doi: 10.1126/science.adt6788.
Dr. Daniel Petras
Assistant Professor of Biochemistry
University of California, Riverside
E-Mail: dpetras@
ucr.
edu
Leon Kokkoliadis
Medien- und Öffentlichkeitsarbeit
Tel: +49 7071 29-74707 / +49 152 346 79 269
E-Mail: leon.kokkoliadis@uni-tuebingen.de





Inside CMFI Podcast