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Gemeinsam besser: Resistenz von Darm-Mikrobiom-Gemeinschaften gegen Medikamente

24.09.2024 Pressemitteilung

Bakterien, die empfindlich auf Medikamente reagieren, können als Teil von Gemeinschaften durch Kreuzabwehrstrategien widerstandsfähiger werden.

Viele Arzneimittel für Menschen können das Wachstum und die Funktion von Bakterien, die unser Darmmikrobiom bilden, direkt hemmen. Forschende des EMBL Heidelberg und des Exzellenzclusters CMFI haben nun herausgefunden, dass dieser Effekt abgeschwächt wird, wenn Bakterien Gemeinschaften bilden.

In einer Studie verglichen Forschende aus den Gruppen Typas, Bork, Zimmermann und Savitski am European Molecular Biology Laboratory (EMBL) Heidelberg eine Vielzahl von Arzneimittel-Mikrobiom-Wechselwirkungen zwischen isoliert kultivierten Bakterien und solchen, die Teil einer komplexen mikrobiellen Gemeinschaft sind. Zahlreiche ehemalige EMBL-Forschende, darunter Kiran Patil (MRC Toxicology Unit Cambridge, Großbritannien), Sarela Garcia-Santamarina (ITQB, Portugal) und André Mateus (Universität Umeå, Schweden) sowie Lisa Maier und Ana Rita Brochado (Exzellenzcluster CMFI, Universität Tübingen, Deutschland) ergänzten die Studie mit ihrer Expertise. Die Ergebnisse wurden kürzlich in der Fachzeitschrift Cell veröffentlicht.

Für ihre Studie untersuchte das Team, wie 30 verschiedene Medikamente (darunter Arzneimittel gegen infektiöse und nicht-infektiöse Krankheiten) auf 32 verschiedene Bakterienarten wirken. Diese 32 Arten wurden auf der Grundlage von Daten aus fünf Kontinenten als repräsentativ für das menschliche Darmmikrobiom ausgewählt.

Die Forschenden fanden heraus, dass bestimmte arzneimittelresistente Bakterien gemeinsam ein Verhalten aufweisen, das andere arzneimittelresistente Bakterien schützt. Dieses „kreuzprotektive“ Verhalten ermöglicht es den empfindlichen Bakterien, normal weiter zu wachsen wenn sie sich in einer Gemeinschaft befinden, während sie isoliert absterben würden. 

„Wir hatten nicht erwartet, dass die Bakterien so resistent sein würden“, sagt Sarela Garcia-Santamarina, ehemalige Postdoktorandin in der Typas-Arbeitsgruppe am EMBL, Mitautorin der Studie und jetzt Gruppenleiterin am Instituto de Tecnologia Química e Biológica (ITQB) der Universidade Nova de Lisboa in Portugal. „Es war sehr überraschend zu beobachten, dass in bis zur Hälfte der Fälle, in denen eine Bakterienart durch das Medikament beeinträchtigt wurde, wenn sie allein kultiviert wurde, sie in der Gemeinschaft unbeeinflusst blieb“.

Die Forschenden untersuchten daraufhin die molekularen Mechanismen, die diesem gegenseitigen Schutz zugrunde liegen. „Die Bakterien helfen sich gegenseitig, indem sie die Medikamente aufnehmen oder abbauen“, erklärt Michael Kuhn, wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Borks-Arbeitsgruppe am EMBL und Mitautor der Studie. “Diese Strategien nennt man Bioakkumulation oder Biotransformation.”

„Die Ergebnisse zeigen, dass Darmbakterien ein größeres Potenzial zur Umwandlung und Anreicherung von Medikamenten haben als bisher angenommen“, sagt Michael Zimmermann, Gruppenleiter am EMBL und einer der Autoren der Studie.

Lisa Maier, CMFI Vorstandsmitglied und EMBL-Alumna ergänzt: "Diese Studienergebnisse verbessern erheblich unser Verständnis dessen, was mikrobielle Gemeinschaften widerstandsfähig gegenüber einer Arzneimittelexposition macht."

Allerdings gibt es auch eine Grenze für die Stärke dieser Gemeinschaft. Die Forschenden fanden heraus, dass hohe Arzneimittelkonzentrationen dazu führen, dass die Mikrobiom-Gemeinschaften zusammenbrechen und die Kreuzschutzstrategien durch eine „Kreuzsensibilisierung“ ersetzt werden. Bei der Kreuzsensibilisierung werden Bakterien, die normalerweise gegen bestimmte Medikamente resistent sind, in einer Gemeinschaft empfindlich gegenüber diesen Medikamenten – genau das Gegenteil von dem, was die Autoren bei niedrigeren Medikamentenkonzentrationen beobachtet haben.

„Das bedeutet, dass die Zusammensetzung der Gemeinschaft bei niedrigen Medikamentenkonzentrationen stabil bleibt, da einzelne Mitglieder der Gemeinschaft empfindliche Arten schützen können“, erklärt Nassos Typas, Gruppenleiter am EMBL und Hauptautor der Studie. „Steigt jedoch die Konzentration der Medikamente, kehrt sich die Situation um. Dann werden nicht nur mehrere Arten empfindlich und die Fähigkeit, sich gegenseitig zu schützen, nimmt ab. Sondern es kommt auch zu negativen Wechselwirkungen, die weitere Mitglieder der Gemeinschaft sensibilisieren. Als nächstes wollen wir untersuchen, wie die Kreuz-Sensibilisierungsmechanismen funktionieren.”

Wie bei den untersuchten Bakterien wählten die Forschenden auch bei dieser Studie einen gemeinschaftlichen Ansatz und bündelten ihre wissenschaftlichen Stärken. Die Typas-Gruppe ist Expertin für experimentelle Hochdurchsatz-Mikrobiom- und Mikrobiologie-Ansätze, die Bork-Gruppe steuerte ihre Bioinformatik-Expertise bei, die Zimmermann-Gruppe führte Metabolomics-Studien durch und die Savitski-Gruppe die Proteomics-Experimente. Zu den externen Mitarbeitenden gehörte auch die Gruppe des EMBL-Alumnus Kiran Patil von der Medical Research Council Toxicology Unit der Universität Cambridge in Großbritannien, die ihr Fachwissen über bakterielle Interaktionen im Darm und mikrobielle Ökologie einbrachte.

In einem zukunftsweisenden Experiment nutzten die Autoren die neuen Erkenntnisse über die Wechselwirkungen zwischen den Schutzmechanismen auch, um synthetische Gemeinschaften zusammenzustellen, die ihre Zusammensetzung während einer Behandlung mit Medikamenten beibehalten können. 

„Diese Studie ist ein Meilenstein auf dem Weg zum Verständnis, wie Medikamente unser Darmmikrobiom beeinflussen. In Zukunft könnten wir dieses Wissen nutzen, um Medikamente so zu verschreiben, dass sie weniger Nebenwirkungen haben“, sagt Peer Bork, Gruppenleiter und Direktor am EMBL Heidelberg. „Um dieses Ziel zu erreichen, untersuchen wir auch, wie die Interaktionen zwischen den Arten durch Nährstoffe beeinflusst werden, so dass wir noch bessere Modelle für das Verständnis der Wechselwirkungen zwischen Bakterien, Medikamenten und dem menschlichen Wirt schaffen können“, fügt Patil hinzu.

Text: EMBL/Andreia Pinho

Zur Pressemitteilung

Originalpublikation:

Garcia-Santamarina S, Kuhn M, Devendran S, Maier L, Driessen M, Mateus A, Mastrorilli E, Brochado AR, Savitski MM, Patil KR, Zimmermann M, Bork P, Typas A. (2024) Emergence of community behaviors in the gut microbiota upon drug treatment. Cell. S0092-8674(24)00966-8. doi: 10.1016/j.cell.2024.08.037.

Wissenschaftlicher Kontakt

Prof. Dr. Lisa Maier
Universität Tübingen
Interfakultäres Institut für Mikrobiologie und Infektionsmedizin

l.maier@uni-tuebingen.de
Webseite

 

Prof. Dr. Ana Rita Brochado
Universität Tübingen
Interfakultäres Institut für Mikrobiologie und Infektionsmedizin

ana.brochado@uni-tuebingen.de
Webseite

Pressekontakt

Leon Kokkoliadis
Medien- und Öffentlichkeitsarbeit

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E-Mail: leon.kokkoliadis@uni-tuebingen.de